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Antisemitismus in der Einstellungsforschung

So antisemitisch ist Deutschland

Die empirische Vorurteilsforschung unterscheidet idealtypisch unterschiedliche Ausformungen des Antisemitismus, deren Verbreitung sie zu messen versucht. Hohe Zustimmungsraten verzeichnen heute insbesondere der sekundäre und der israelbezogene Antisemitismus. VON RUTH FISCHER

In der Bundesrepublik Deutschland gab es seit den 1950er Jahren immer wieder einzelne Umfragen, die das (Fort-) Bestehen antisemitischer Einstellungen untersuchten. Solche Studien konnten aber zumeist nur eine Momentaufnahme der Verbreitung antisemitischer Vorurteile in der deutschen Gesellschaft aufzeigen.1 Längerfristig angelegte, und damit auch zu Schwankungen und Entwicklungen antisemitischer Ressentiments aussagekräftige Studien gibt es noch nicht so lange. Aktuell gibt es in Deutschland zwei repräsentative Studien, die über einen längeren Zeitraum hinweg die Verbreitung und Entwicklung antisemitischer Einstellungen in der Bevölkerung untersuchen:

Zum einen die sogenannte FES-Mitte-Studie, die seit 2014 unter der Leitung von Andreas Zick am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld durchgeführt wird. Sie schließt methodisch und konzeptionell an die Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ (2002-2011) des Soziologen Wilhelm Heitmeyer zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit an.2 Zum anderen die sogenannte Leipziger Mitte-Studie (Autoritarismus-Studie) der Arbeitsgruppe um die Sozialwissenschaftler Elmar Brähler und Oliver Decker an der Universität Leipzig, die seit 2002 im Turnus von zwei Jahren die Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in Deutschland erforscht und in diesem Zusammenhang auch das Phänomen Antisemitismus erfasst.3

In empirischen Messungen verbleibt die Zustimmung zu den sogenannten „klassischen“ Erscheinungsformen des Antisemitismus auf (konstant) niedrigem Niveau. Solche klassischen Formen behaupten eine Andersartigkeit von Jüdinnen und Juden und unterstellen ihnen Minderwertigkeit und (negative) Charaktereigenschaften.

Grafik 1 | Daten nach: FES-Mitte-Studie 2018/19, S. 124-125; Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, S. 194

Ein derart offen rassistischer Antisemitismus ist in Deutschland seit 1945 weitgehend tabuisiert. Demgegenüber sind andere Artikulationsformen wie der sogenannte sekundäre oder der israelbezogene Antisemitismus weit verbreitet und erzielen hohe, zum Teil sogar steigende Zustimmungswerte, die jedoch auch Schwankungen unterliegen. Auslöser für steigende Messwerte sind häufig aktuelle politische bzw. gesellschaftliche Ereignisse und Debatten – etwa in Zusammenhang mit der Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus oder dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Dies deutet darauf hin, dass antisemitische Denkmuster und Bilder in der Gesellschaft weiterhin wirkmächtig sind, selbst wenn sie nicht jederzeit offen zutage treten. Sie können jedoch bei Bedarf oder durch äußere Anreize mobilisiert werden.

Darüber hinaus lassen sich auf Basis der Erhebungen deutliche Zusammenhänge zwischen Antisemitismus und anderen Phänomenen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit erkennen: Wer Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden hegt, lehnt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch andere Menschengruppen ab und neigt vermehrt zu rechten und autoritären Einstellungsmustern.4

Herausforderung bei der Erfassung von Antisemitismus: soziale Erwünschtheit

Die weitgehende Tabuisierung von offenem Antisemitismus stellt die Sozialforschung bei der empirischen Analyse der gesellschaftlichen Verbreitung antisemitischer Einstellungen vor einige Herausforderungen: Die Soziologen Werner Bergmann und Rainer Erb prägten für das Spannungsverhältnis zwischen offizieller Räson und dem Sprechen hinter vorgehaltener Hand den Begriff der „Kommunikationslatenz“. Das Konzept basiert auf der Annahme, dass in der deutschen Gesellschaft ein Nebeneinander von unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen Diskursfeldern existiert: Während Antisemitismus im öffentlichen Raum weitgehend sanktioniert wird, wird er vor allem in privaten bzw. ähnlich geschlossenen Kommunikationsräumen oder mithilfe argumentativer Umwege geäußert. Zu dieser „Umwegkommunikation“ gehören Chiffren, Sprachcodes und Anspielungen ebenso wie instrumentelle Bezugnahmen auf Israel oder den Nahostkonflikt. Gesagt wird etwas auf den ersten Blick nicht Verwerfliches oder scheinbar Rationales. Von denen, die mit den Codes oder Chiffren vertraut sind und sie zu entschlüsseln wissen, wird die Aussage ‚richtig’ verstanden. Sie erkennen den eigentlich antisemitischen Kern der Botschaft.

In der Praxis der Einstellungsforschung führt das zu tendenziell niedrigeren Zustimmungsraten bei klassisch judenfeindlichen Aussagen und zu weitaus höheren bei subtileren Facetten des Antisemitismus. Wie wirkmächtig das Prinzip der sozialen Erwünschtheit ist, zeigte 2015 die mit 77 Prozent sehr hohe Zustimmung zur Aussage: „In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer und Juden sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden“.5 Allerdings kann die öffentliche Tabuisierung und konsequente Sanktionierung von Antisemitismus durchaus positive Effekte haben: „Solange Konsens in den politischen und kulturellen Eliten besteht, auch gegen ,die Stammtische‘ den Meinungsdruck aufrechtzuerhalten und sich antisemitischer Ressentiments politisch nicht zu bedienen, kann dies den Antisemitismus aus der öffentlichen Kommunikation weitgehend heraushalten und langfristig die Tradierung antijüdischer Stereotype abschwächen.“6 In Zeiten eines erstarkenden Rechtspopulismus, der an den bisherigen Grenzen des öffentlich Sagbaren rüttelt und den politischen Diskurs über Antisemitismus und Rassismus mitbestimmt, droht dieser politische Konsens jedoch zu erodieren.

Darüber hinaus bleibt festzuhalten, dass nicht jede antisemitische Verlautbarung automatisch auf eine verfestigte antisemitische Überzeugung bzw. auf ein antisemitisches Weltbild schließen lässt. Uneindeutige wie auch widersprüchliche Haltungen können im Rahmen der zumeist quantitativ angelegten Forschungsdesigns oft nicht erfasst werden.

Sekundärer Antisemitismus

Der sekundäre Antisemitismus tritt vor allem in drei Varianten auf: Zum Ersten in Form einer Täter-Opfer-Umkehr, in der Jüdinnen und Juden beispielsweise vorgeworfen wird, die Erinnerung an den Holocaust zu ihrem Vorteil auszunutzen. Zum Zweiten in Form von Erinnerungsabwehr, indem etwa ein „Schlussstrich“ unter die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus gefordert wird. Oder zum Dritten in Form einer Relativierung oder gar Leugnung der nationalsozialistischen Verbrechen. Ein zentrales Leitmotiv des sekundären Antisemitismus ist das Bedürfnis nach einem ungestörten, positiven Verhältnis zur individuellen (familiären) und kollektiven (nationalen) Identität. Das Gedenken an den Holocaust, die Auseinandersetzung mit aktuellem Antisemitismus wie auch das jüdische Leben nach 1945 stehen diesem Verlangen nach Widerspruchsfreiheit im Weg. Sekundärer Antisemitismus ist in Deutschland relativ weit verbreitet.

Grafik 2 | Daten nach: FES-Mitte-Studie 2018/19, S. 70-71 u. 124-125; Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, S. 197

Israelbezogener Antisemitismus

Eine kritische Haltung gegenüber dem Staat Israel und seiner Politik ist nicht per se antisemitisch. Problematisch wird es dann, wenn:

  • doppelte Standards angewendet werden, indem an Israel andere Maßstäbe und Verhaltensansprüche angelegt bzw. gestellt werden, als an andere vergleichbare Staaten;
  • Symbole und Bilder des klassischen Antisemitismus dazu genutzt werden, Israel oder Israelis zu beschreiben;
  • die Politik Israels mit der des nationalsozialistischen Deutschlands gleichgesetzt wird;
  • Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich gemacht werden.

Die empirische Sozialforschung reagiert auf die Herausforderungen der Abgrenzung zwischen legitimer Kritik an israelischer Politik und antisemitisch motivierten Bezugnahmen, indem Aussagen, die eine „neutrale“ Kritik an Israel beinhalteten, ebenso abgefragt werden wie jene, die in ihrem Kern antisemitische Stereotype enthalten. Zudem werden die Antworten in diesem Cluster mit denen zu anderen Erscheinungsformen des Antisemitismus abgeglichen. Die Schnittmengen aller Aussagen können zumindest als Indiz dafür gewertet werden, wie häufig sich scheinbar legitime Kritik an Israel aus antisemitischen Motiven speist. So stimmen gut die Hälfte derjenigen, die vermeintlich unverfänglicher Kritik an Israel zustimmen, zugleich mindestens einer Erscheinungsform von Antisemitismus ohne direkten Bezug zu Israel zu.7

Grafik 3 | Daten nach: FES-Mitte-Studie 2018/19, S. 70-71; Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, S. 197

Verschwörungsideologien

Verschwörungsideologien versprechen Halt und Sinnstiftung in einer komplexen und oft schwer durchschaubaren Welt. Sie liefern einfache Erklärungen, die widersprüchliche Wahrnehmungen zu einem konsistenten Weltbild umdeuten. Dies passiert vor allem im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umbrüchen, in denen traditionelle Deutungsmuster nicht mehr zu greifen scheinen. Dabei wird unterstellt, im Hintergrund agierende Akteure setzten unter Einsatz von Täuschung oder Betrug einen umfassenden Plan zu ihren Gunsten um. Dieses stark vereinfachende dualistische Weltbild fußt auf der Idee des ewigen Kampfes zwischen dem ‚Guten‘ und dem ‚Bösen‘.

Verschwörungsdenken muss zwar nicht zwangsläufig antisemitisch konnotiert sein, jedoch kann die Forschung eine Wechselbeziehung nachweisen: Umso ausgeprägter die Verschwörungsmentalität eines Menschen, desto höher die Wahrscheinlichkeit antisemitischer Ressentiments.8 Dieser Zusammenhang wird plausibel, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Antisemitismus selbst als Verschwörungstheorie funktioniert, ist doch die gegen Jüdinnen und Juden gerichtete Zuschreibung von (geheimer) Macht und Einfluss ein integraler Bestandteil antisemitischer Ideologie. ‚Die Juden‘ erscheinen in der verschwörungsideologischen Konstruktion als Drahtzieher hinter bestimmten Ereignissen, den Medien, dem Finanzsystem oder gar dem gesamten Weltgeschehen. Vor diesem Hintergrund sind auch die Ergebnisse aus der Forschung zur weiten Verbreitung der Verschwörungsmentalität als alarmierend zu betrachten.

Grafik 4 | Daten nach: FES-Mitte-Studie 2018/19, S. 214-216; Leipziger Autoritarismus-Studie 2018, S. 193

Soziodemografische Faktoren

Im Allgemeinen neigen Männer sowie ältere und weniger gut gebildete Menschen eher zu antisemitischen Einstellungen. Die Unterschiede sind insgesamt jedoch gering. Weitere soziodemografische Faktoren wie Einkommen, Beruf, Region oder wohnhaft in Ost- oder Westdeutschland spielen in dem Zusammenhang keine Rolle. Einzig die Schulbildung kann als relevanter Hinweis gelten: je höher der Bildungsgrad, desto geringer der Zuspruch zu antisemitischen Aussagen. Der israelbezogene Antisemitismus bildet hierbei jedoch eine Ausnahme: hier hat eine höhere Schulbildung keine positiven Auswirkungen.

 

Ruth Fischer ist Mitbegründerin und war bis 2019 Redakteurin von „Anders Denken – Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit“

Anmerkungen

1 Werner Bergmann/Rainer Erb: Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946-1989. Opladen 1991.

2 Zuletzt: Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan: Verlorene Mitte - Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter. Berlin 2019. PDF

3 Zuletzt: Oliver Decker/Elmar Brähler (Hg.): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018. Gießen 2018.

4 Vgl. dazu auch Eva Groß/Andreas Zick/Daniela Krause: Von der Ungleichwertigkeit zur Ungleichheit: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 16/17 (2012), S. 11-18. Online/PDF Beate Küpper/Andreas Zick: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Dossier Rechtsextremismus. Hg. von der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2015. Online

5 Beate Küpper/Andreas Zick/Daniela Krause: PEGIDA in den Köpfen – Wie rechtspopulistisch ist Deutschland? In: Andreas Zick/Beate Küpper/Ralf Melzer/Dietmar Molthagen (Hg.): Wut, Verachtung und Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland. Bonn 2015, S. 21-43, hier S. 38.

6 Werner Bergmann/Wilhelm Heitmeyer: Antisemitismus: Verliert die Vorurteilsrepression ihre Wirkung? In: Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 3. Frankfurt am Main 2004, S. 224-238.

7 Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus: Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen. Hg. vom Bundesministerium des Innern. Berlin 2017, S. 64. PDF

8 Vgl. Jonas H. Rees/Pia Lamberty: Mitreißende Wahrheiten. Verschwörungsmythen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In: Zick/Küpper/Berghan (wie Anm. 1), S. 203-223. PDF

 

 

Zum Weiterlesen

Heiko Beyer: Zur Verbreitung des Antisemitismus in Deutschland: Empirische Forschungsbefunde und methodische Probleme. In: Dossier Antisemitismus, Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) 2017. Online

Oliver Decker/Elmar Brähler (Hg.): Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Die Leipziger Autoritarismus-Studie 2018. Gießen 2018.

Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 1 – Folge 10. Frankfurt am Main 2002 – 2011.

Andreas Zick/Beate Küpper: Rechtsextreme und menschenfeindliche Einstellungen. In: Fabian Virchow/Martin Langebach/Alexander Häusler (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus. Wiesbaden 2016, S. 83-113.

Andreas Zick/Beate Küpper/Wilhelm Berghan: Verlorene Mitte - Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19. Hg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter. Berlin 2019. PDF 

 

Bildnachweis: Wellington Rodrigues / unsplash.com

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